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Interview mit Völkerrechtsanwalt Patrick Kroker

»Auch gegen befreundete Staaten muss ermittelt werden«

Interview
Interview mit Völkerrechtsanwalt Patrick Kroker
Internationaler Gerichtshof

Anwalt Patrick Kroker spricht mit zenith über den Fall der deutsch-palästinensischen Familie Abujadallah, die rechtlichen Auswirkungen internationaler Verfahren auf Deutschland und wie wichtig es ist, das Völkerrecht auch gegenüber Freunden konsequent anzuwenden.

Am 8. Dezember berichtete die Süddeutsche Zeitung, dass sechs Mitglieder der deutsch-palästinensischen Familie Abujadallah – das Elternpaar Yousef und Ayah und ihre vier Kinder Salahuddin, Mohammad, Abdulrahman und Omer – im Zuge eines Luftangriffs des israelischen Militärs getötet wurden. Das »Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte« (ECCHR) versucht nun die Bundesanwaltschaft zu Ermittlungen zu bewegen.

 

zenith: Herr Kroker, Sie fordern die Bundesanwaltschaft zu Ermittlungen im Fall der Familie Abujadallah auf. Wie ist der aktuelle Stand in dem Verfahren?

Patrick Kroker: Der Fall ist längst nicht abgeschlossen. Er wird gerade von der Staatsanwaltschaft Dortmund geführt. Wir fordern weiterhin eine Übernahme des Falls durch den Generalbundesanwalt, um einen möglichen Anfangsverdacht auf Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ermitteln. Wir stehen zudem im Kontakt mit Menschenrechtsorganisationen in Gaza und beraten diese im Hinblick auf die Einreichung möglicher weiterer Fälle. Uns ist wichtig, etwas dazu beizutragen, damit sich tatsächlich alle Seiten dieses Konfliktes zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichten. Das betrifft israelisches Staatsgebiet, den Gazastreifen, aber auch das Westjordanland. Zudem sollte auch die Beteiligung westlicher Unternehmen an möglichen Völkerrechtsverbrechen untersucht werden.

 

Bereits 2014 reichte das ECCHR Strafanzeige im Namen der deutsch-palästinensischen Familie Kilani ein. Während der israelischen Militäroperation »Protective Edge« tötete ein Luftangriff am 21. Juli 2014 sieben Familienmitglieder. In Ihrer »Stellungnahme zur Ablehnung des Falls Kilani durch die deutsche Generalbundesanwaltschaft« vom Mai 2022 werfen Sie der Bundesanwaltschaft »Doppelstandards« vor.

Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen werden seit etwa zehn Jahren endlich auch in Deutschland verstärkt ermittelt, selbst wenn sie im Ausland begangen wurden, etwa in Syrien oder der Ukraine. Die bisherigen Ermittlungen der Bundesanwaltschaft richteten sich fast ausschließlich gegen Tatverdächtige aus weniger mächtigen und nicht mit der Bundesrepublik befreundeten Staaten. Eine große Leerstelle bleiben Ermittlungen gegen Täter aus Staaten, die politisch dem Westen zugerechnet werden können und natürlich gegen wirtschaftliche Akteure. Die Gleichheit vor dem Recht, auch vor dem Völkerrecht, ist für dessen Legitimität von entscheidender Bedeutung. Nur, wenn beispielsweise auch gegen die USA wegen Folterfällen im Zuge des 11. September oder gegen Israel wegen möglicher Kriegsverbrechen vorbehaltslos ermittelt wird, wird man dem Vorwurf an das Völkerstrafrecht, es sei doch nur ein Machtinstrument des globalen Nordens, wirkungsvoll begegnen können. Dann entlarvt man auch den Vorwurf der Doppelstandards, den Staaten wie Russland oder Iran fortwährend nutzen, um von den eigenen Straftaten abzulenken.

 

»Daher sind Strukturverfahren so wichtig, wie wir sie seit dem 7. Oktober fordern«

 

Im Fall Kilani bemängelte die Bundesanwaltschaft unter anderem, dass der israelische Rechtsweg nicht vollends ausgeschöpft wurde. Ihrer Ansicht nach ist dies aber keine notwendige Bedingung. Warum?

Richtig, es ist in diesem Fall keine notwendige Bedingung für die Ermittlungen in Deutschland, denn ein solches Prinzip gibt es meiner Meinung nach im Völkerstrafrecht nicht. Es sei denn, dies ist eindeutig so geregelt, wie im Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Und eine solche Bedingung der »Rechtswegerschöpfung« wurde von der Bundesanwaltschaft in anderen Situationen auch nicht an die Ermittlungen gestellt. Zudem ist es wichtig, dass im Fall des Verdachts von Völkerstraftaten früh und breit ermittelt wird. Denn man weiß nie, wann und wo Tatverdächtige auftauchen oder eine andere Ermittlungsbehörde – national oder international – Beweise anfordert. Daher sind Strukturverfahren so wichtig, wie wir sie auch im Hinblick auf die Ereignisse in Gaza und Israel seit dem 7. Oktober fordern.

 

Welche Rolle spielen »Strukturermittlungsverfahren« für die Ahndung möglicher Völkerrechtsverbrechen?

Erfolgreiche Ermittlungen von Völkerstraftaten beginnen fast immer mit Strukturermittlungsverfahren, denn es handelt sich um komplexe Massenverbrechen. Man spricht auch von Makrokriminalität. Diese Dimensionen werden vom Völkerstrafrecht erfasst, das bedeutet, dass auch die Beweise sie erfassen müssen. Dies führt zu langwierigen und hoch komplexen Ermittlungen, die ohne eine genaue Kenntnis der Struktur nicht geführt werden können. Durch ein solches Verfahren verschaffen sich die Ermittlungsbehörden den notwendigen Überblick über Tat- und Täterstrukturen. Fängt man erst in dem Moment an zu ermitteln, wenn ein Tatverdächtiger im Land ist, verstreicht sehr viel Zeit, bevor man die Rolle und die Verantwortlichkeit dieses Tatverdächtigen untersuchen kann. Zusätzlich dienen Strukturverfahren der Beweissicherung für eine mögliche Vielzahl späterer Verfahren. Denn in fast jedem Kontext von Massengewalt stellt sich früher oder später die Frage der strafrechtlichen Aufarbeitung. Doch viele Beweise könnten zu einem späteren Zeitpunkt bereits verloren sein, weshalb es so wichtig ist, sie zeitnah zu sichern. Ist das im Rahmen eines Strukturverfahrens geschehen, können später Beweise jederzeit auch mit anderen ermittelnden Behörden – national oder international – geteilt werden.

 

Wo stößt das Völkerrecht an seine Grenzen?

Dass seit den 1990er Jahren Völkerstrafrecht überhaupt regelmäßig Anwendung findet und Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof zu seiner Durchsetzung geschaffen wurden, ist ein großer Erfolg für die Menschenrechtsbewegung. Gleichzeitig muss man die selektive Anwendung des Völkerstrafrechts gegen Täter aus politisch weniger mächtigen oder nicht-westlichen Staaten, auch und gerade durch den Internationalen Strafgerichtshof, wirklich sehr eindeutig kritisieren. Das Recht kann eine entscheidende Rolle bei der Ächtung von Massengewalt spielen. Insofern sollten wir hohe Erwartungen daran stellen. Aber wir sollten uns auf keinen Fall auf das Recht allein verlassen. Denn auch hier geht es um Macht und damit um Politik. Insoweit sind Rechtsfragen gleichzeitig politische Fragen und Kämpfe um das Recht. Für uns als ECCHR haben daher alle Fälle zwangsläufig eine große politische Dimension.

 

Die Bundesanwaltschaft ist bereits gegen die Hamas tätig geworden. Wie stehen die Chancen, dass die Kriegsverbrechen der Hamas auch vor deutschen Gerichten geahndet werden?

Sofern sich Tatverdächtige in Deutschland jetzt oder in Zukunft aufhalten, ist das ein realistisches Szenario, dass es hier zu Verfahren kommt. Sollte das nicht der Fall sein, wird es keine Gerichtsverfahren geben. Verfahren in Abwesenheit der Angeklagten gibt es in Deutschland nicht.

 

»In beiden Fällen fielen die endgültigen Entscheidungen entgegen der deutschen Position aus«

 

Aktuell wird der Vorwurf Südafrikas – Israel begehe einen Völkermord im Gazastreifen – vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verhandelt. Gleichzeitig ermittelt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) zu möglichen Kriegsverbrechen in Ost-Jerusalem, dem Westjordanland und im Gazastreifen. Welchen Einfluss hat das auf die rechtliche Situation in Deutschland?

Im Fall Abujadallah besteht eine Ermittlungspflicht deutscher Behörden, weil bei dem Angriff auch deutsche Staatsangehörige getötet wurden. Daher sind die Ermittlungen unabhängig vom Vorgehen des IStGH weiterzuführen. Sie könnten gerade davon profitieren, wenn man denn ermitteln wollte, indem beim IStGH Beweise angefragt werden, die für das Ermittlungsverfahren in Deutschland von Relevanz sind. Die Fragen, die im Verfahren vor dem IGH und in einem möglichen Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts geklärt werden müssen, sind grundsätzlich unterschiedlicher Natur. Beim IGH geht es um Völkerrechtsverstöße von Staaten, der Generalbundesanwalt dagegen ermittelt nur strafrechtlich relevantes Fehlverhalten von Individuen. Auch die Art der Entscheidung und die Verfahrensregeln unterscheiden sich erheblich. Jedes deutsche Gericht müsste eigenständige Feststellungen treffen, beispielsweise zum Völkermord oder zum Vorliegen einer Besatzung nach humanitärem Völkerrecht. Dabei können aber Feststellungen des IGH wichtige Anhaltspunkte und Referenzen sein.

 

Am 12. Januar gab Deutschland bekannt, in das Verfahren vor dem IGH als Drittpartei zu intervenieren. Regierungssprecher Steffen Hebestreit erklärte, dass der Vorwurf Südafrikas »jeder Grundlage« entbehrt. Wie bewerten Sie Deutschlands Vorgehen?

Deutschland ist der einzige Staat, der formal seine Absicht bekundet hat, sich gegen die von Südafrika erhobene Völkermordklage vor dem IGH auf Seiten Israels zu wehren. Dieser Schritt wurde international weitgehend kritisiert, insbesondere im Zusammenhang mit einem ähnlichen Vorgehen der deutschen Bundesregierung in der Vergangenheit, wie zum Beispiel bei der Anerkennung Palästinas als Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes oder der deutschen Haltung zum Gutachten des Internationalen Gerichtshofes bezüglich der Völkerrechtswidrigkeit des israelischen Grenzzauns im Westjordanland. In beiden Fällen fielen die endgültigen Entscheidungen entgegen der deutschen Position aus.

 

Rechnen Sie also damit, dass wieder entgegen der deutschen Rechtsauffassung entschieden wird?

Das kann ich derzeit nicht abschätzen.

 

Immer wieder berichten Medien über TikTok-Videos israelischer Soldaten, welche auch Südafrika vor dem IGH als Beweise für mögliche Vergehen vorwies. Sammelt das ECCHR selber relevantes Material in den sozialen Netzwerken, um möglicherweise tätig zu werden?

Wir tauschen uns intensiv mit unseren Partnern zu allen Möglichkeiten aus, dem Völkerrecht in der Region zur Durchsetzung zu verhelfen und werden möglicherweise weitere Fälle einreichen und unterstützen. Dabei kooperieren wir mit Organisationen, die vor Ort Beweise sammeln, die wir dann analysieren und juristisch bewerten. Das braucht alles seine Zeit, auch wenn es Zeiten sind, die, wie aktuell in Gaza, unglaublich dramatisch sind. Für uns aber geht Genauigkeit vor schnellen Schlagzeilen.



Interview mit Völkerrechtsanwalt Patrick Kroker
Photograph: Mohamed Badarne

Patrick Kroker ist zugelassener Rechtsanwalt und seit November 2015 im Programmbereich des »Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte«  (ECCHR) im Bereich Völkerstrafrecht und rechtliche Verantwortung tätig. Das selbsterklärte Ziel der Menschenrechtsorganisation aus Berlin ist es »dem Unrecht das Recht entgegenzusetzen«. Kroker war Anwalt der Nebenklage, als das Oberlandesgericht Koblenz 2022 zwei ehemalige Mitglieder des syrischen Geheimdienstes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu langjährigen Haftstrafen verurteilte.

Von: 
Ignaz Szlacheta

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