Zwei Afghanen mit Ausbildungsplätzen werden nach Kabul abgeschoben. Sie wollen sich nun wieder auf den Weg in ihre Heimat machen. Die heißt für sie nämlich jetzt Deutschland.
Am 15. Dezember 2016 wird die Abschiebung für Alimadad Naseri endgültig zur Realität, als der 20-Jährige mit 33 weiteren Afghanen in Kabul ankommt. An Bord des Charter-Fluges sind auch Dutzende deutsche Polizisten, die eine »sichere Rückkehr« gewährleisten sollen. Die aus Deutschland Abgeschobenen werden am Flughafen von einer staatlichen afghanischen Delegation empfangen. Alimadad bekommt noch 50 US-Dollar in die Hand gedrückt und darf dann in die Stadt. Doch eigentlich will er sobald wie möglich zurück nach Deutschland aufbrechen.
Während des Fluges hat er sich mit Ali Hosseini, 22, angefreundet, der auch nicht verstehen kann, warum er hier gelandet ist. Ali war gut in Deutschland integriert und seit mehreren Jahren im Hotel Hessenhof in Winterberg im Sauerland in der Küche angestellt, bevor die Abschiebung ihn aus seinem gewohnten Umfeld riss. »Ich habe die Deutschen immer sehr gemocht. Doch die Politik verstehe ich nicht. Ich habe Steuern bezahlt, gearbeitet und wurde dennoch abgeschoben. Warum? Wer hat darüber entschieden?« Die beiden jungen Afghanen brechen gemeinsam in das vom Smog erdrückte Kabul auf, um einen Schlafplatz für die Nacht zu finden.
Auch wenn sich die Fälle ähneln, gibt es doch wichtige Unterschiede: So ist Ali Hosseini in erster Linie in Pakistan aufgewachsen, wohin seine Familie vor dem Taliban-Regime geflohen war. In Pakistan lebten bis 2001, unter der Aufsicht des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, bis zu vier Millionen Afghanen. Deren Schutzstatus soll Ende 2017 ablaufen. Dementsprechend hielten sich 2016 »nur« noch 1,5 Millionen registrierte Afghanen – sowie ca. 1 Million nicht-registrierte Afghanen – im Land auf. Diese Menschen wurden jedoch seit 2016 zu hunderttausenden nach Afghanistan abgeschoben – oft unter Androhung von Gewalt. Verlässliche Angaben zu den Zwangsrückführungen gibt es jedoch weder auf pakistanischer noch auf afghanischer Seite.
Alimadad Naseri wiederum lebte mit seinen Eltern auch während der Herrschaft der Taliban in Afghanistan. Er gehört einer jungen Generation von Afghanen an, die sich wegen der schlechten Sicherheitslage, aber auch wegen fehlender Zukunftsperspektiven in den letzten Jahren Richtung Europa aufgemacht hat. Beide hatten in Deutschland eine so genannte Duldung erhalten: Ein Status, der jedes Jahr erneut geprüft wird und aufgehoben werden kann, falls das Herkunftsland als sicher angesehen wird. Außerdem kann die Duldung im Fall von Straftaten, die Geldstrafen von über 50 Tagessätzen nach sich ziehen, aberkannt werden.
Da Afghanistan von der Bundesregierung in Teilen als sicher eingestuft wurde, sind auch die Abschiebungen gestiegen. Nach Ablehnung des Asylantrags haben die Afghanen zudem die Option der »freiwilligen Rückkehr«, für die die Bundesregierung Startgelder für Einzelpersonen und Familien bereitstellt. Da viele Afghanen keine Hoffnung auf einen juristischen Einspruch gegen die Ablehnung des Asylantrages sehen, ist die Zahl der »freiwilligen Rückkehrer« nach Afghanistan entsprechend wesentlich höher als die Abschieberate: 2016 kehrten offiziell 3.200 Afghanen freiwillig nach Afghanistan zurück – und nur 27 wurden direkt nach Afghanistan abgeschoben. Dazu kommen um die 200 weitere Afghanen, die in EU-Drittländer abgeschoben wurden. Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan haben in 2017 aber stark zugenommen: So wurden in den ersten zwei Monaten 77 Afghanen mittels Sammelabschiebungen nach Kabul geflogen – deutlich mehr als im gesamten Jahr 2016.
2016 sind über eine Million Afghanen aus Pakistan und Iran nach Afghanistan zurückgekehrt
2016 kehrten über eine Million Afghanen aus Pakistan und Iran nach Afghanistan zurück. Insbesondere die Angehörigen der schiitischen Volksgruppe der Hazara aus Zentralafghanistan, die in den 1990er Jahren von den Taliban ins Visier genommen wurden, hatten in Iran nur die Wahl, als Söldner Assads im syrischen Bürgerkrieg zu kämpfen oder nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Pakistan setzte afghanische Flüchtlinge schon immer als Druckmittel gegenüber der Kabuler Regierung ein – und der pakistanische Geheimdienst ISI spielte schon beim Aufbau der Taliban in den 1990er Jahren eine wichtige Rolle. Die Mehrzahl der Rückkehrer lebt in schnell wachsenden Slums rund um Kabul oder in anderen Ballungszentren wie Mazar e-Sharif und Jalalabad. Hinzu kommen hunderttausende Binnenflüchtlinge, die sich ebenfalls in den Städten ansiedeln. Entsprechend hart umkämpft sind Jobs als Tagelöhner, Kriminalitätsrate und Straßengewalt steigen derweil rasant.
Alimadad und Ali werden direkt mit der harten Realität des zerfallenden Landes konfrontiert. Nachdem sie Stunden durch die Nacht laufen, erreichen sie den Westteil der Stadt in der Nähe der Pol-e-Soktha-Brücke. Auf dem Mittelstreifen der stark befahrenen Straße sitzen hunderte Afghanen, viele aus Iran abgeschoben, und spritzen sich oder rauchen Heroin. Nur brennende Pappkartons erhellen die Szenerie, während Fußgänger das Gebiet hastig durchqueren und Autofahrer ihre Türen verriegeln. Immer wieder überfallen Drogenabhängige mit einer Spritze in der Hand Passanten und fordern Geld.
Ali Hosseini sagt, dass ihm in dieser Nacht nahezu sein gesamtes Begrüßungsgeld geklaut wird. Einen sicheren Schlafplatz finden die beiden Afghanen nicht. In ihren Gesichtern haben sich gleichermaßen Resignation, Trauer und Wut eingeschrieben: »Wir haben kein Geld, keine Wohnung, keine Arbeit und kennen niemanden hier«, meint Alimadad und Ali fügt hinzu: »Wir haben nicht einmal einen afghanischen Pass. Wenn wir von Polizisten kontrolliert werden, können wir uns nicht ausweisen.«
Abdul Ghafoor, Begründer der Kabuler NGO »Afghanistan Migrants Advice and Support Organisation« weiß, wovon die beiden jungen Männer sprechen. Er wurde 2013 aus Norwegen nach Afghanistan abgeschoben. Seitdem hat er mit internationaler Unterstützung, insbesondere von norwegischen Freunden, die Hilfsorganisation aufgebaut und macht auf Probleme und Gefahren für die Heimkehrer aufmerksam: »Für abgeschobene Afghanen ist eine Reintegration in die Gesellschaft sehr schwer. Insbesondere fehlende Sicherheit, Arbeitslosigkeit und Korruption machen das Überleben für diese jungen Männer, die über keinerlei Netzwerke verfügen und oft das erste Mal in ihrem Leben in Afghanistan sind, so gut wie unmöglich.«
Auch Islamudin Jurat, Sprecher des Ministeriums für Flüchtlinge in Kabul, sieht die Abschiebungen aus Europa mittlerweile kritisch: »Ich selber fühle mich nicht wohl damit, wie manche EU-Länder mit den Abgeschobenen umgehen. Aber wir sind leider an bilaterale Abkommen gebunden. Dabei ist unser Land schon jetzt mit der Situation überfordert und 2017 sollen noch mehr Abgeschobene in Afghanistan ankommen.«
Alimadad und Ali haben sich nach drei Tagen entschieden, getrennte Wege zu gehen. Ali will die gefährliche Fahrt über Kandahar nach Pakistan wagen: »Ich weiß nicht, wie ich die Grenze überqueren soll. Und wenn ich in eine Taliban-Kontrolle gerate, werden die mich garantiert töten, da ich ein Hazara bin. Aber in Pakistan lebt meine Familie.« Auch Alimadad wird Kabul für einige Tage verlassen. Er muss in die 150 Kilometer südwestlich von Kabul gelegene Stadt Ghazni reisen, um einen neuen Pass zu beantragen. Irgendwo in der Gegend lebt auch seine Familie, mit der er nach eigenen Angaben aber seit sieben Jahren keinen Kontakt hat. Auch diese kurze Fahrt ist gefährlich, da die Schnellstraße von kriminellen Banden kontrolliert wird und das Umland der Stadt von den Taliban.
Alimadad Naseri wurde 1996 in Moklay in der Provinz Ghazni in Afghanistan geboren und wuchs in der gleichnamigen Provinzhauptstadt auf. Da er der Minderheit der schiitischen Hazara angehört, sah seine Familie wegen der Bedrohung durch die Taliban keinen anderen Weg, als ihn in Richtung Deutschland zu schicken. Dort lebte er seit 2013 als geduldeter Flüchtling in Tönisvorst bei Krefeld in Nordrhein-Westfalen. Grund für seine Abschiebung war unter anderem die Beteiligung an einem gemeinschaftlichen Raub. Gegen das Urteil wurde Einspruch erhoben, den neuen Gerichtstermin konnte er wegen der Abschiebung nicht wahrnehmen. Nach Angaben von Alimadad wurde die Abschiebung ohne Vorwarnung durchgeführt. Er durfte angeblich nicht einmal das gesparte Geld von seinem Sparkassenkonto abheben.
Ali Hosseini
Am nächsten Tag hat Ali Hosseini die Reise nach Pakistan trotz aller Befürchtungen gut überstanden. An der Grenze konnte er die Soldaten überzeugen, ihn auch ohne gültigen Pass durchzulassen. Wenige Tage später bricht der Kontakt zu Ali jedoch ab. Alimadad wiederum ist bei der Fahrt nach Ghazni und zurück nach Kabul mit dem Schrecken davongekommen: Dreimal haben unbekannte Milizen den Bus kontrolliert und die Reisenden bedroht. Zwar konnte er seine Familie nicht finden, aber zumindest hat er einen neuen Pass beantragt.
Heute lebt Alimadad zusammen mit drei Studenten aus der gleichen afghanischen Heimatregion in einem Zimmer. Ein afghanischer Freund aus Deutschland vermittelte ihm den Kontakt. Doch wie lange er dort unbezahlt bleiben darf, ist unklar. Insbesondere, da der Raum mit seinen rauen Betonwänden und der kleinen Gasheizung zu klein für vier Menschen ist. Alimadad ist am Ende seiner Kräfte: »Ich sterbe nur einmal, ob hier in Kabul, in meiner Heimatstadt oder Deutschland.«
7.000 Kilometer entfernt, in der Kleinstadt Kempen in Nordrhein-Westfalen, sind die Gemüter von Alimadads Freunden erregt. Zu einer Protestveranstaltung wenige Tage nach der Abschiebung kamen mehrere hundert Personen – eine beachtliche Zahl für die 35.000-Einwohner-Gemeinde bei Krefeld.
Michael Stoffels ist einer der Aktivisten, die sich für die Rückkehr von Alimadad sowie für einen Abschiebestopp von Afghanen einsetzt. Der pensionierte Lehrer bietet seit 1980 Hilfestellung für Flüchtlinge an, um ihnen den Weg zur Integration zu vereinfachen. »Warum müssen Afghanen heute Angst vor Abschiebung haben? Doch nicht etwa, weil die Sicherheitslage in Afghanistan Politiker interessiert, sondern wegen der politischen Stimmung hierzulande. Weil Wahlen anstehen und die Parteien befürchten, dass ihnen die Wähler zur AfD davonlaufen«, ist er überzeugt.
Alimadads Fall ist in Nordrhein-Westfalen mittlerweile ein Politikum. Seine Integrationsperspektive erschien vielversprechend: Er war geduldeter Flüchtling, lebte im Ortsteil Tönisvost und hatte ab Oktober 2016 über die »Berufsorientierung für Flüchtlinge« einen Praktikumsplatz erhalten. Es stimmt jedoch auch, dass ein Gerichtsprozess anhängig war: Alimadad soll in den Raub eines Handys involviert sein. In Kombination mit einer Verurteilung wegen Beleidigung sowie wegen Diebstahls einer Packung Rasierklingen liegen aus staatlicher Sicht genügend Belege vor, die eine Abschiebung rechtfertigen – nicht zuletzt, weil das Strafmaß über der Grenze von 50 Tagessätzen lag.
Alimadads Pflichtverteidiger hatte im Fall des Raubes Widerspruch eingelegt – doch sein Schützling wurde noch vor dem neu angesetzten Gerichtstermin abgeschoben. Unterstützer wie Stoffel verurteilen zwar die begangenen Straftaten, halten die Abschiebung aber für eine Überreaktion: »Es ist empörend, einen jungen Menschen, der hier auf einem so guten Weg zu einer beruflichen Ausbildung war, mit der Deportation in eines der gefährlichsten Länder der Welt zu bestrafen.«
Auch zwischen den verschiedenen involvierten deutschen Behörden herrscht Uneinigkeit, was die Einstufung Afghanistans betrifft. Bundesinnenminister Thomas de Mazière hat im Oktober 2016 in einer gemeinsamen Erklärung mit der afghanischen Regierung die Grundlage für Sammelabschiebungen gelegt – erstes Ergebnis war der Rückführungsflug vom 15. Dezember, obwohl Afghanistan nicht auf der Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten steht. Lisa Häger, eine der Sprecherinnen des Bundesinnenministeriums, verweist in Sachen Sicherheitslage in Afghanistan wiederum an das Auswärtige Amt. »Es gibt Regionen, in denen die Lage ausreichend kontrollierbar und für den Einzelnen vergleichsweise ruhig und stabil ist«, heißt es in einer Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage im Bundestag im März 2017. Die Regierungseinschätzung zur Sicherheitslage sei des Weiteren als Verschlusssache eingestuft: »Eine pauschale Benennung sicherer Regionen ist auch deswegen nicht möglich, weil eine Region unter Umständen für Person A sicher, für Person B aber unsicher sein kann«, führt Häger weiter aus.
Die Taliban kontrollieren fast 40 Prozent des afghanischen Staatsgebietes
Daten aus Afghanistan selbst scheinen nach UN-Menschenrechtskriterien gegen die Einschätzung als sicheres Herkunftsland zu sprechen. 2015 wurden nach Angaben der UN-Mission UNAMA landesweit mehr als 3.500 Zivilisten getötet. Diese Zahl steigt stetig, insbesondere da die Taliban mittlerweile rund 40 Prozent des gesamten Landes kontrollieren. Hinzu kommt, dass sich Milizen, von denen viele einst von den USA finanziert und ausgebildet wurden, im vermeintlich sicheren Norden des Landes durch Raub, Drogenschmuggel und Auftragsmorde bereichern. Und in fast allen Provinzhauptstädten gehören Anschläge und Gefechte zum Alltag.
Auch das Flüchtlingshilfswerk UNHCR kommt in einer Studie im Frühjahr 2017 zu dem Schluss, dass in ganz Afghanistan ein bewaffneter Konflikt herrscht. Der Kieler Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, der auch einen Nebenkläger im NSU-Prozess unterstützt, fasst mit drastischen Worten seine Einschätzung zu den Abschiebungen zusammen: »Juristisch halte ich eine Abschiebung in ein solches Kriegsgebiet für rechtswidrig. Sie ist weder mit deutschem Recht, noch mit der europäischen Menschenrechtskonvention und den Bestimmungen zum Umgang mit Flüchtlingen vereinbar. Wer solche Abschiebungen durch- und umsetzt, macht sich direkt verantwortlich.«
Wie also wird die Bundesregierung mit den Abschiebungen nach Afghanistan im Wahljahr 2017 umgehen? Fünf SPD-regierte Bundesländer haben Abschiebungen einstweilig ausgesetzt, derweil die Bundesregierung an ihrer Position eines sicheren Herkunftslandes festhält. Unterdessen versinkt Afghanistan in Gewalt: So hat das Rote Kreuz seine Arbeit eingestellt, nachdem der lokale IS-Ableger mehrere Mitarbeiter umgebracht hat. Zwischen Warlords, einer korrupten und schwachen Regierung sowie den Taliban bleibt den Abgeschobenen meist nur ein Ausweg: Zurück nach Europa.