Die Küstenmetropole Alexandria – einst Inbegriff mediterraner Kultur – verliert ihr Gesicht. Immer mehr Alexandriner wollen sich das nicht bieten lassen. Und machen Front gegen das Immobiliengeschäft.
In Alexandrias Promenade herrscht reges Treiben an diesem Nachmittag im April. Schülerinnen schlendern in ein Strandcafé, einige lassen die Füße im Meer baumeln. Die steigenden Temperaturen der letzten Tage, Vorboten des nahenden Sommers, haben das Wasser aufgewärmt. Ein älteres Paar entspannt unter einem Sonnenschirm, umgeben von Hochhäusern und Werbetafeln, die dicht gesät die Corniche, die Küstenstraße, umsäumen.
In Glim wohnt Alexandrias Mittelschicht. Das Viertel, bekannt für seinen o en zugänglichen Küstenabschnitt, zieht Touristen an und auch Menschen aus der ländlichen Umgebung und den verarmten Vororten von »Alex«. Die beiden Brüder Fares (17) und Muhammad (12) machen sich jeden Tag nach der Schule zum Schwimmen und Spielen aus dem Armenviertel Al-Awayed ins nahe gelegene Glim auf. Einer nach dem anderen springt ins Wasser, wobei Fares stets seine Hand herunterreicht, um seinen jüngeren Bruder wieder an Land zu ziehen. Muhammads Gesicht ist mit Narben überzogen. Sie stammen von Schnitten, die er sich beim Eintauchen ins Wasser zugezogen hat, Überbleibsel vom Aufprall mit den vom Wasser bedeckten Steinen.
Ein Mikrokosmos aus den Hoffnungen und Träumen, vermischt mit einer gewaltigen Portion Not
Der 17-jährige Saled wohnt in derselben Nachbarschaft und kommt zum Trainieren an den Strand. Er ist Mitglied der Tanzgruppe »Asphalt-Teufel«. Ihren Tanzstil bezeichnet Saled als eine Mischung aus »Knocking, Breaking und Zauberei«. Zuerst performte die Breakdance-Combo in den Straßen von Al-Awayed, mittlerweile bekommen sie Anfragen, auf Hochzeitsfeiern aufzutreten.
An der Uferpromenade von Alexandria findet man in verdichteter Form alles, was das moderne Ägypten ausmacht. Ein Mikrokosmos aus den Hoffnungen und Träumen seiner Bürger, vermischt mit einer gewaltigen Portion Not. Auf einer Landzunge ein paar hundert Meter weiter passen sich Jugendliche einen verschlissenen Fußball über die Steine hinweg zu. Die 15- bis 17-Jährigen haben alle die Schule verlassen müssen, um sich mit Jobs über Wasser zu halten. Ihre Tage verbringen sie damit, Obst und Gemüse auf der Straße zu verkaufen und nachmittags ein bisschen zu kicken.
Einer von ihnen hat die Schule vor gut drei Jahren geschmissen. Die Schuld sieht er beim Bildungswesen: »Die Lehrer haben alles Mögliche gemacht, aber sicher nicht unterrichtet. Manche von uns brachten dann Gemüse mit und schälten es während des Unterrichts. Schließlich musste ich Geld für Privatunterricht zahlen, und am Ende kann ich nicht mal schreiben.« Eine ähnliche Erfahrung machte auch sein jüngerer Bruder. Er arbeitet inzwischen auch am Strand. »Das hier ist mir viel lieber. Ich kann mir meine eigenen Klamotten kaufen oder das Geld für ein Handy sparen.«
Entlang der Corniche von Glim, abseits der 2002 aufwendig neu gebauten Bibliothek von Alexandria, sitzen Nada und Nada in der Sonne. Die beiden Freundinnen, 18 und 19 Jahre alt, entspannen sich nach einem langen Tag an der Uni am Meer. Wenn es denn geht. Immer wieder werden sie von Männern belästigt, die sich ein Vergnügen daraus machen, die jungen Mädchen entlang der Promenade dreist anzubaggern. »Wir würden hier gerne länger bleiben, aber wegen der Belästigungen müssen wir schon weit vor Sonnenuntergang weiterziehen«, sagt Nada. »Vor ein paar Minuten hat ein Typ versucht, uns einen Schrecken einzujagen, indem er mit seinem wütenden Hund an der Leine in unsere Richtung zeigte«, sagt ihre Freundin.
Ahmed sagt, er sei 17 Jahre alt, aber mit dem Strauß roter Luftballons in der Hand wirkt er um einiges jünger. Wie bereits sein Onkel vor ihm zog er von Sohag in Oberägypten nach Alexandria. In der Hoffnung, hier einen Job zu finden. Weil sein Vater erkrankte und nicht länger arbeiten kann, deckt sich Ahmed jeden Tag mit Ballons ein, bläst sie auf und verkauft sie entlang der Corniche. Meist lohnt sich der Einsatz. »Ich verdiene rund 50 ägyptische Pfund am Tag (umgerechnet 2,50 Euro, Anm. d. Red.). Wenn ich einen Job in einem Restaurant hätte, dann würde mein Lohn gerade mal bei 20 Pfund liegen.«
Trotz des bunten Treibens vor malerischer Kulisse wächst kaum ein Einwohner in Alexandria auf, ohne den ewig gleichen Satz zu hören: »Früher war Alexandria wunderschön.« Als sei die von Alexander dem Großen gegründete Mittelmeermetropole dazu verdammt, für immer ein Schattendasein zu führen, unwürdig, das glorreiche Erbe seiner Vergangenheit anzutreten. So sieht es zumindest der Kulturkritiker Amro Ali, der aus Alexandria stammt und als Dozent an der Amerikanischen Universität in Kairo lehrt. Einst war Alexandria für die großen jüdischen und griechischen Gemeinden bekannt. Viele der Einwanderer, die der Handel über das Mittelmeer nach Alexandria gebracht hatte, blieben in der Stadt. Auch viele Armenier, geflohen vor dem Genozid im Osmanischen Reich, fanden in Alexandria eine neue Bleibe.
»Früher war Alexandria wunderschön.« Als sei die von Alexander dem Großen gegründete Mittelmeermetropole dazu verdammt, für immer ein Schattendasein zu führen, unwürdig, das glorreiche Erbe seiner Vergangenheit anzutreten.
»Die Armenier entschieden sich für ein Leben in Alexandria, weil die Stadt sich durch ihre kosmopolitische Natur von anderen Städten abhob. Die Bewohner waren offener für die Neuankömmlinge und ihre Stadt wurde somit zum bevorzugten Ziel – nicht nur für die armenische Diaspora«, sagt Daniel Tanielian. Die Familie des 67-Jährigen hatte es am Ende des Ersten Weltkriegs nach Alexandria verschlagen. »Zu dieser Zeit kamen die Menschen sogar aus Europa nach Alexandria, um hier Arbeit zu finden«, fügt der pensionierte Ingenieur hinzu.
Lebten vor den 1950er Jahren noch Tausende Armenier in Ägypten, ging die Zahl in den folgenden Jahrzehnten immer weiter zurück. »Viele von ihnen flickten Leder oder reparierten Uhren, aber konnten bald dem Wettbewerb nicht mehr standhalten. Hinzu kam der Druck, der auf Ausländer in Ägypten zu manchen Zeiten ausgeübt wurde«, sagt Tanielian. »Als sich die Gelegenheit bot, nutzten viele die Chance und wanderten aus.« Andere Minderheiten – vor allem die Juden – verließen ebenfalls das Land. Tanielians Familie entschied sich, zu bleiben. Der Gedanke fortzugehen ist ihm nie in den Sinn gekommen. »Wenn jemand mich fragt, wo ich herkomme, sage ich: aus Alexandria in Ägypten. Mehr nicht.«
Heute zieht es wieder viele Menschen aus Alexandria fort. Wirtschaftskrise und Inflation treffen Ägyptens Mittelmeermetropole hart. Die Zentralisierung und die Abwanderung von Fachkräften Richtung Hauptstadt – Kairo liegt nur zweieinhalb Autostunden entfernt – befeuern die Unsicherheiten. Für den Kulturkritiker Ali Amro ist dies einer der Gründe, warum Unruhen, Revolten und Umstürze in Ägypten häufig hier ihren Anfang nahmen. Der Mobilisierung vom 25. Januar 2011 waren Proteste gegen die Polizeibrutalität vorausgegangen. Exemplarisch dafür stand der Foltertod von Khaled Said und Sayed Bilal. Beide Männer stammten aus Alexandria.
Gerade fünf Strände in Alexandria sind für die Öffentlichkeit noch frei nutzbar
Der Widerstand gegen soziale Missstände ist Teil der Persönlichkeit Alexandrias. Als Knotenpunkt des Handels muss die Stadt aber auch seit jeher mit Wandel leben. »Die Corniche ist so etwas wie die Wirbelsäule Alexandrias und grundlegend für die eigene Beziehung zur Stadt«, meint Amro Ali. So wie sich die Stadt zunehmend verändere, müssten auch die Einwohner lernen, sich anzupassen. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielt der dramatische Schwund von öffentlichen Strandflächen in den vergangenen Jahren. Gerade einmal fünf Strände in Alexandria sind für die Öffentlichkeit heute noch frei nutzbar. Die anderen 40 Abschnitte sind nur kostenpflichtig zugänglich. Die Eintrittskarten kosten zwischen vier und zehn ägyptische Pfund pro Person, umgerechnet 20 bis 50 Cent.
Andere Bereiche der Uferpromenade sind im Besitz von Berufsverbänden der oberen Mittelklasse: Ärzten, Ingenieuren, Lehrern, Wissenschaftlern, Polizei und Militär. Deren Gebäude blockieren oft die Sicht auf das Meer, während sich die dazugehörigen Cafeterien über die asphaltierten Flächen an der Küste erstrecken, die eigentlich für Fußgänger und den öffentlichen Gebrauch gedacht sind.
»Die Strände waren offen und jeder konnte am Meer sitzen, ohne dass Cafés und Restaurants die Sicht versperrten. Zudem ist das Meer jetzt auch viel dreckiger – sogar die Farbe hat sich verändert.«
Auch Daniel Tanielian empfindet die Veränderungen als Verlust von Lebensqualität und Gemeinschaftssinn, die Alexandria einmal ausmachten. »Früher gab es nicht dieses Gedränge. Die Strände waren offen und jeder konnte am Meer sitzen, ohne dass Cafés und Restaurants die Sicht versperrten. Zudem ist das Meer jetzt auch viel dreckiger – sogar die Farbe hat sich verändert. Die Straßenhändler am Strand sind immer noch da, aber jetzt kommt das ständige Hupen der Autos hinzu. Früher war das nicht so.«
Amro Ali sieht die Nostalgie als Ergebnis einschneidender Veränderungen, von denen nur wenige Privilegierte profitieren. »Die Corniche wurde in rasendem Tempo privatisiert. Das führt dazu, dass die Bewohner zunehmend frustriert sind. Es ist nicht mehr ihre Stadt. Und zur Entfremdung gesellt sich ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit«, sagt Ali.
Doch dagegen regt sich auch Widerstand. Die Initiative »Save Alex« setzt sich für den Erhalt von Flächen im öffentlichen Raum ein. Mitbegründer Sherif Farag ist davon überzeugt, dass Kinder und Jugendliche heute eine ganz andere Stadt erleben als das Alexandria, in dem er selbst aufgewachsen ist. Er zählt die fortlaufenden Veränderungen auf, die die Corniche erlebt hat. »Zunächst verschwanden in Vierteln wie Sidi Bishr die Umkleidekabinen am Strand, die von vielen Menschen im Sommer genutzt wurden. Schließlich ließ der Ausbau der Küstenstraße die Fußgängerzone an der Promenade schrittweise schrumpfen. Die erodierten Strände liegen mittlerweile weit außer Reichweite der Bewohner mit niedrigem Einkommen«, sagt Farag.
Als Architekt und Dozent an der Fakultät für Bildende Kunst an der Universität Alexandria steht Farag den städtebaulichen Veränderungen kritisch gegenüber. Insbesondere die Hotels, Restaurants und Parkhäuser, die die Sicht auf das Meer versperren, sind ihm ein Dorn im Auge. »Diese mehrstöckigen Parkplatzanlagen sind auf der ganzen Welt verpönt. Am Meer sollten wir eigentlich die besten architektonischen Entwürfe umsetzen. Umso unverständlicher, dass ein Bauunternehmer die Erlaubnis bekommen kann, so etwas Hässliches gerade in dieser Lage aufzustellen«, sagt Farag.
Die Aktivisten von »Save Alex« setzen sich auch dafür ein, historische Baudenkmäler vor dem Abriss zu bewahren. Viele alte Villen aus der Blütezeit der 1920er Jahre und sogar eine Villa aus dem 18. Jahrhundert mussten in den vergangenen Jahren neuen Bauprojekten weichen. Trotz einer umfassenden Auflistung historisch bedeutender Bauwerke, die eigentlich unter Denkmalschutz stehen sollten, haben gut vernetzte Bauunternehmer es immer wieder geschafft, die Gebäude über Nacht von der Liste entfernen zu lassen. Anschließend schritten sie eilig zum Abriss, ohne die Öffentlichkeit überhaupt davon in Kenntnis zu setzen.
Üblicherweise verleitet ein Bauunternehmer oder ein Makler den Besitzer eines alten Anwesens dazu, sein Grundstück für viel Geld zu verkaufen – manchmal auch unter Druck. Wenn das Gebäude in die Hände der Bauträger fällt, beginnen sie sofort mit dem Abriss.«
Verantwortlich für solche Missstände sei »ein Netzwerk von Immobilienunternehmern, korrupten Polizeibeamten und Bezirksingenieuren in Verbindung mit einer laxen Gesetzgebung«, sagt Mohamed Abo Al-Kheir von »Save Alex«. »Üblicherweise verleitet ein Bauunternehmer oder ein Makler den Besitzer eines alten Anwesens dazu, sein Grundstück für viel Geld zu verkaufen – manchmal auch unter Druck. Wenn das Gebäude in die Hände der Bauträger fällt, beginnen sie sofort mit dem Abriss.« »Save Alex« versucht, gegen solche Praktiken anzugehen: Sobald die Aktivisten erfahren, dass ein historisches Gebäude zum Verkauf steht, protestieren sie vor Ort und warnen auf ihrem Blog vor dem drohenden Abriss. Für das zurzeit wohl umstrittenste Bauvorhaben in Alexandria ist das Militär verantwortlich.
Wie in ganz Ägypten verfügt es auch in Alexandria über zahlreiche Immobilien und Grundbesitz. Der Bau des geplanten Hotelkomplexes begann mit dem überstürzten Abriss des Theaters »Al-Salam«. Einst höchst beliebt, war das Salam schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb. Die Bauarbeiten verursachten lange Verkehrsstaus auf der Corniche, ein zusätzlicher Ärger für die Alexandriner. Gleich nebenan soll zudem ein weiteres Parkhaus hochgezogen werden – laut Farag ist es einzig zur Benutzung durch die Hotelangestellten und -gäste vorgesehen.
Trotz der sozialen Missstände hält sich der Widerstand in Grenzen – in Alexandria hat sich Resignation breitgemacht
Trotz der sozialen Missstände, die das Militär durch seine dominante Stellung verschärft, hält sich der Widerstand in Grenzen – in Alexandria hat sich Resignation breitgemacht. Dieses Gefühl manifestierte sich auch nach dem Anschlag auf die koptische Sankt-Markus-Kathedrale. Am Palmsonntag 2017 wurden vor der Kirche 17 Menschen getötet. Amro Ali sagt, dieses Mal hätten die Menschen anders reagiert als 2011. Damals hatte ein Selbstmordattentäter am Neujahrsmorgen 23 Menschen in der Al-Qaddissin-Kirche in Sidi Bishr in den Tod gerissen.
Der Anschlag im Jahr 2011 hatte einen neuen Gemeinschaftssinn zutage gefördert, dieser gab dann die Richtung vor für die Revolution, die wenige Wochen später folgen sollte, schreibt Ali in einem Eintrag auf dem ägyptischen Web-Portal Mada Masr. Die Bewohner Alexandrias waren in immer größeren Zahlen zu Mahnwachen zusammengekommen und hatten ihrer Wut über das Mubarak-Regime Luft gemacht. »Wir wollen den Präsidenten und den Innenminister feuern!«, hatten die Trauernden auf den Beerdigungen der Opfer damals gerufen.
Nach dem jüngsten Anschlag hingegen herrschte eine andere Stimmung, der Protest blieb leise. »Für den Durchschnittsbürger scheint es, als ob das Militär ausschließlich auf den eigenen wirtschaftlichen Vorteil aus sei. Die Polizei hat ihrerseits Wege und Mittel gefunden, um Demonstrationen schnell zu zerschlagen und Aktivisten festzunehmen«, so Ali. Die Legitimität des Sisi-Regimes, die Gefahr des IS-Terrorismus für Ägypten und die geopolitische Großwetterlage in der Region treten angesichts des täglichen Überlebenskampfes und der Hilflosigkeit gegenüber einem repressiven Staatsapparat in den Hintergrund.
Die Bewohner finden Trost in den schönen Seiten der Stadt, die sie für den Moment zumindest für sich haben. Der Abschnitt, an dem sich die Uferpromenade entlang der Bibliothek biegt, gehört zu den malerischsten Orten, um den Tag ausklingen zu lassen. Die Sonne sinkt am Horizont vor der Kulisse der Qaitbay-Zitadelle aus dem 15. Jahrhundert, errichtet auf den Ruinen des Pharos, des antiken Leuchtturms, der zu den sieben Weltwundern zählte. Die Jugendlichen sitzen am Ufer, Familien beobachten das allabendliche Schauspiel von der Corniche aus. Auch die roten Ballons, die Ahmed auch zu dieser Stunde zum Verkauf anbietet, schimmern in der Abendsonne. Die Sonne und das Meer bieten hier Lebensqualität und Vergnügen für jeden, egal ob arm oder reich.